Wer sich umfassend und detailreich über Fußballtaktik in ihrer ganzen Komplexität informieren möchte, der lese die Taktikanalysen von spielverlagerung.de. Und wem die „drischt die Kugel beherzt in den Winkel“-Diktion der Mainstream-Fußballpresse zu wenig differenziert ist, für den gilt dasselbe. Differenziertheit in den Beschreibungen und den Urteilen ist ganz sicher eine der obersten Maximen der SV-Autoren, was man nicht zuletzt an der neulich hier von mir zusammengestellten, unfassbar feingliedrigen Rollentaxonomie ersehen kann, die über die Jahre entwickelt wurde.
Das gefällt nicht jedem und muss es auch nicht. Zu kompliziert, zu nerdig, zu oberlehrerhaft sei das ganze. Was mir dagegen gefällt, ist die Reflektiertheit und, ha! Differenziertheit, mit der sich etwa der spielverlagerung-Gründer Tobias Escher – übrigens ausgebildeter Linguist – über die Funktionalität und den Adressatenzuschnitt des fachsprachlichen Registers geäußert hat, auch wenn er es so nicht genannt hat. Die Taktikanalysen richten sich eben nicht an alle, sondern an die, die ein Interesse an präzisen und fachlich korrekten Beschreibungen haben. Und neben den Grafiken sind nunmal sprachliche Beschreibungen das wichtigste Instrumentarium der Taktikanalysen, das dementsprechend gut präpariert sein will.
Fachvokabular – computerlinguistisch untersucht
Dass die sprachlichen Besonderheiten der Taktikanalysen vor allem auf der Ebene der Fachterminologie zu suchen sind, kann man natürlich lesend feststellen – man kann aber auch computerlinguistische Methoden ansetzen und mit automatisierten Verfahren ermitteln, was das Typische an diesen Texten ist. „Typisch“ heißt hierbei natürlich „typisch im Vergleich zu…“. Ich untersuche also mein Spielverlagerungskorpus (1025 Analysen aus der Rubrik Bundesliga) und wähle als Referenzkorpus 3060 Bundesliga-Spielberichte von kicker online. Ich gebe zu, der Vergleich ist nicht ganz sauber, da die Textfunktion eine ganz andere ist. Die Spielberichte (in den kicker-URLs zu Unrecht „spielanalysen“ genannt) informieren über das Geschehen, die Taktikanalysen setzen diese Informationen voraus und liefern Erklärungen, Bewertungen usw. Reizvoll wäre sicher ein Vergleich mit den eher auf Massentauglichkeit gebürsteten Spielanalysen von sportschau.de oder spiegel.de, aber da fehlen mir die Daten. Ich werde unten noch darauf eingehen, dass auch der textsortenübergreifende Vergleich interessant sein kann.
Für den Vergleich schicke ich die beiden Korpora in lemmatisierter Form durch das Keyword-Tool von AntConc, das in der jüngsten Version 3.5.0 ein neues Feature enthält, nämlich die Berechnung der statistischen Effektstärke. Ich wähle als Maß die Ratio der relativen Häufigkeiten. Anders als statistische Signifikanz sagt die nicht etwas über den Grad der Wahrscheinlichkeit aus, mit der ein beobachteter Frequenzunterschied als nicht zufällig gelten kann, sondern über die Größe dieses Unterschieds. Die Ergebnisliste liefert mir die Lexeme der Spielverlagerungsanalysen, deren relative Häufigkeit besonders stark über der in den Spielberichten vom Kicker liegt. Diese eben nach der Effektstärke sortierten Wortliste kann man dann als Wordcloud visualisieren.
Das übliche Vorgehen bei Wordclouds setzt einfach die absolute Häufigkeit als Größenmaß an. Je häufiger ein Wort im ausgewerteten Korpus ist, desto größer wird es dargestellt. Dabei werden oft Stopwords eingesetzt, um die besonders häufigen, aber wenig aussagekräftigen Wörter wie und oder der/die/das herauszufiltern. Stopwordlisten sind aber statisch und in ihrer Zusammenstellung letztlich willkürlich. Besser ist es deshalb, die Stopwords je nach Korpus neu zu berechnen, und eben das macht das Keyword-Tool, indem es diejenigen Wörter herausfiltert, die in den beiden verglichenen Korpora gleich häufig sind, und nur das anzeigt, was eben typisch ist. Neben den meisten Funktionswörtern werden so auch Wörter wie Spiel und Mittelfeld herausgefiltert, die zwar typisch für Fußballtexte sind, aber eben textsortenübergreifend.
Und so sieht das dann für die ersten 150 Treffer aus (die Liste habe ich nur um ein paar Eigennamen und einige wenige Ausdrücke wie Grafik manuell bereinigt; Smartphonenutzer schauen bitte hier):
Die Größe des Wortes (die kleinen kann man mit dem schicken Mouseover-Effekt etwas ranzoomen) ist hier nicht mit absoluter Häufigkeit gleichzusetzen, sondern mit der Größe des Unterschieds in der Häufigkeit im Vergleich zu den Spielberichten. So ist das Wort strategisch hier nur sehr klein zu sehen, obwohl es weit häufiger als etwa Deckungsschatten, aber eben nicht exklusiv für die Taktikanalysen ist.
Typisch für die Taktikanalysen sind also tatsächlich vor allem Fachtermini wie Halbraum und Zwischenlinienraum oder auch ballnah und ballfern, die es braucht, um Positionen präzise und zugleich flexibel beschreiben zu können. Auch Bezeichnungen von positionsrelativen Bewegungen wie Herausrücken, zurückfallend und invers sind auffällig – letztlich also alles Termini, mit denen man die bekannten Grafiken in den Analysen versprachlichen kann. Schließlich fallen auch die Bezeichnungen für umfassendere taktische Mittel oder Prinzipien wie Mittelfeldpressing oder Mannorientierung ins Auge. Aus diesen Bausteinen kann man sich nun jeder selbst Unfugsätze mit größter Fachwortdichte zusammenbauen, die allem Unfug zum Trotz zumindest den typischen Spielverlagerungssound haben. Sätze über inverse Achter, die im Umschaltmoment beim ballfernen Abkippen aus dem Zwischenlinienraum die aus dem Rückwärtspressing entstehende lokale Überladung im Halbraum ausbalancieren können.
Beim genauen Hinsehen findet man aber noch ein paar andere Ausdrücke, die interessant sind. Das Pronomen wieso etwa und das Adverb vermutlich verweisen auf textsortentypische Eigenschaften der Spielanalysen, wo es eben darum geht, Deutungen und nicht nur bloße Beschreibungen zu liefern. Und das Adjektiv unpassend zeigt, dass es hier eben auch darum geht, die taktischen Entscheidungen in einem Spiel zu bewerten. Adverbien wie desweiteren verweisen schließlich auf eine komplexe Textstrukturierung, die in den ohnehin viel knapperen Spielberichten kaum zu finden ist.
Und umgekehrt?
In umgekehrter Richtung funktioniert das Verfahren nicht ganz so gut. Das Tool gibt zu gut 50% Namen von Spielern und Trainern aus. Das ist nicht uninteressant, zeigt sich hier doch, dass es in den Spielberichten vor allem darum geht zu beschreiben, wer wann was gemacht hat. Waren bei den Taktikanalysen die Grafiken der Referenzpunkt der Versprachlichung, sind es hier die die Spielstatistiken (die den Redaktionen von Livedatenagenturen geliefert werden und dann nur noch in Worte gehüllt werden müssen).
Für die Wordcloud habe ich trotzdem die Namen einmal herausgenommen. Hier das Ergebnis (für Smartphonenutzer hier):
Man sieht, dass in den Spielberichten die Tor(raum)szenen klar im Vordergrund stehen, die für die nur bedingt an taktischen Details interessierten Leser von Spielberichten ja auch das Wichtigste sind. Flach-, Rechts, Dreh- und Schrägschüsse sind hier eher eine Erwähnung wert als Herausrücken oder Abkippen. Statt Fachvokabular finden wir hier vielfach Jargonausdrücke wie zirkeln, bugsieren und klingeln, aber auch wertende Adjektive wie tückisch oder gefühlvoll. Und man findet einige typisch journalistische Ausdrücke wie Paukenschlag, Weckruf oder Aufreger, die in den Spielberichten offenbar für Spannung und Dramatik sorgen sollen, auf die Taktikanalysen gar nicht erst angewiesen sind.
Auffällig sind auch die vielen Krankheitsbezeichnungen. Offenbar haben Autoren von Spielberichten eine Obsession für Verletzungen und andere körperliche Einschränkungen. Ob diese Angaben für die Textfunktion des Informierens nötig sind, weiß ich nicht so recht – in jedem Fall füllen sie die Zeilen der möglichst zum Abfiff fertigzustellenden Texte.
Ein letztes noch: Auffällig groß ist das Wort Strafraumrand. Das Verhältnis in der Verwendungshäufigkeit ist 308:1 zugunsten der Spielberichte. Vom Strafraumrand wird meistens aufs Tor geschossen, was wie gesagt für die Taktikanalysen nicht so erwähnenswert ist. Vor allem aber legen die Taktikanalysen der räumlichen Einteilung des Spielfelds ein anderes System zugrunde, in dem sich die Rede von Strafraumrand wohl erübrigt. Ein schönes Beispiel für unterschiedliche Bezeichnungspraktiken.
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