Ausländische Fußballtrainer sind zuverlässige Motoren des Sprachwandels. Ein Trainer, der besonders deutliche Spuren hinterlassen hat, ist zweifelsohne Louis van Gaal, der während seines Engagements beim FC Bayern München (2009-2011) nicht nur einige Ausdrücke geprägt hat, die wohl für immer und ewig van-Gaal-Gedächtnis-Vokabeln sein werden, wie etwa das Feierbiest oder die Redewendung Tod oder Gladiolen. Bleibender noch, weil tatsächlich ins Paradigma des Deutschen vollständig integriert, ist die Verbphrase Chancen kreieren. In seinen vielbesprochenen Pressekonferenzen und Interviews hat van Gaal immer wieder davon gesprochen, dass man „zu wenig Torchancen kreiert“ habe und dass sich überhaupt das Trachten einer jeden siegeswilligen Mannschaft auf das „Kreieren von Chancen“ zu richten habe.

Diese Ausdrucksweise war neu und irgendwie schrullig, und Journalisten haben darum gerne eben diese Verbphrase mit Anführungszeichen markiert und als typische van-Gaal-Diktion ausgewiesen:

Den Pfosten hatte Toni in der ersten Halbzeit getroffen, eine von 14 Chancen, die seine Mannschaft dieses Mal „kreiert” habe, wie van Gaal zählte.
(SZ, 26.10.2009)

Dass es im modernen Fußball nicht genügt, auf die Geistesblitze Einzelner zu vertrauen, sondern dass „Räume vorbereitet werden müssen“ (Joachim Löw), damit „Chancen kreiert“ (Louis van Gaal) werden können.
(taz, 10.07.2010)

Das „Kreieren von Torchancen“, wie es Ex-Bayern-Trainer Louis van Gaal genannt hat, zählt zu den Problemen der Eintracht.
(Rhein-Zeitung, 20.04.2013)

Und tatsächlich findet man im Netz verschiedentlich die Vermutung, dass die inzwischen so üblich gewordene Rede vom Chancen kreieren ein Erbe van Gaals sei – auch wenn sich die Mitnennung des Schöpfers dieser Ausdrucksweise inzwischen erübrigt hat. Außerdem findet man die Vermutung, vor van Gaal hätte man Chancen vielmehr herausgespielt oder sich erarbeitet, aber inzwischen würde man eben nur noch kreieren. Zumindest diese Vermutung kann man nun anhand von Pressekorpora empirisch überprüfen.

Doch wie geht man so eine Recherche an? Zunächst muss man die Korpusabfrage gut planen. Explorativ habe ich zunächst in den (erfahrungsgemäß sprachlich sehr innovativen) weltfussball.de-Livetickern der letzten 10 Jahre nach den nominalen Objekten von kreieren gesucht. Kreiert werden demnach vor allem Chancen, Torchancen, Möglichkeiten und Tormöglichkeiten, weit seltener auch noch Torszenen und Torraumszenen. Die Phrase Gefahr kreieren ist ebenfalls häufig, wird aber fast nur im Sinne von der Eckball kreiert keine Gefahr verwendet, die mir noch einmal ein Sonderfall zu sein scheint. Ich entscheide mich also für die frequentesten Varianten und suche in den Korpora des IDS Mannheim nach Chancen / Torchancen / Möglichkeiten / Tormöglichkeiten kreieren. Das geht mit folgender Suchanfrage:

(&Chance OR &Torchance OR &Möglichkeit OR &Tormöglichkeit) /w5,s0 &kreieren

Der früheste Beleg, in dem fußballtypisch Chance als Objekt zu kreieren verwendet wird, stammt aus dem Zürcher Tagesanzeiger vom 02.08.1996. Es handelt sich interessanterweise um ein Zitat des niederländischen (!) Trainers Jo Bonfrere: „Brasilien war zu einfach zu seinen drei Toren gekommen, doch wir gaben nie auf und kreierten Chancen.“ Auch in der Folge werden wiederholt niederländische Trainer (etwa Bert van Marwijk) mit dieser Phrase zitiert. Chancen kreieren ist offenkundig die im Niederländischen (und im Englischen übrigens auch, wo aber u. a. auch goalsangles und yards of space kreiert werden) gebräuchliche Ausdrucksweise, die von den Trainern dann einfach in Unkenntnis des im Deutschen eigentlich üblichen Verbs herausspielen o.ä. direkt übertragen wird.

Es zeigen sich aber noch zwei weitere Tendenzen: Erstens wird die Phrase zunächst nur von Schweizer Zeitungen verwendet, erst ab 2003 eignen sich auch bundesdeutsche Zeitungen diese Redeweise an. Wie auch mit Ausdrücken wie Penalty und Offside ist die schweizerische Fußballterminologie also näher am englischen Original (eine Sortierung der Ergebnisse nach Ländern zeigt, dass Chancen kreieren in Schweizer Zeitungen rund dreimal so häufig ist wie in bundesdeutschen). Und zweitens scheint die Phrase im Eishockey und Handball schon früher gebräuchlich gewesen zu sein als im Fußball. Dass Louis van Gaal des „Kreieren von Chancen“ erfunden hat, ist jedenfalls definitiv falsch.

Eine diachrone Auswertung zeigt aber, dass erst mit dem Dienstantritt van Gaals in München im Jahr 2009 das Kreieren von Chancen wirklich prominent wird. Lässt man sich die relativen Häufigkeiten der Treffer in den Archiven W2 und W3 (Pressetexte regional und überregional) zeitlich gestaffelt anzeigen, ergibt sich die folgende Kurve:

Nach mehr oder minder gleichbleibender Häufigkeit in den Jahren 2000-2008 gibt es 2009 einen deutlichen Knick und die Häufigkeit nimmt ab dann stetig zu. Interessant ist aber auch der Einbruch bzw. das Abflachen der Kurve im Jahr 2012, dem Jahr nach van Gaals Rauswurf. Kaum war van Gaal weg, dessen Rede von den kreierten Chancen so gerne zitiert wurde, tritt womöglich die Phrase insgesamt in den Hintergrund.

Bei den bereits erwähnten Livetickern sieht es ähnlich aus, auch hier gibt es in van Gaals erster Saison 2009-10 einen sprunghaften Anstieg, der aber sofort wieder von einem Einbruch gefolgt wird. Insgesamt aber nimmt der Gebrauch bis heute tendenziell zu.

Was aber ist mit der im erwähnten Onlineartikel vertretenen These, dass man vor van Gaal Chancen herausgespielt usw. hätte und sie nunmehr kreiere? Dazu führe ich die gleiche Korpusrecherche durch, ersetze aber das Lexem kreieren durch erarbeiten/erspielen/herausspielen:

(&Chance OR &Torchance OR &Möglichkeit OR &Tormöglichkeit) /w5,s0 (&herausspielen OR &erarbeiten OR &erspielen)

Hier datiert der Erstbeleg auf den 09.04.1959, an dem es in der DDR-Zeitung Neues Deutschland heißt: „… allzuoft fehlte es auch am taktischen Verständnis, um zwingende Torchancen herauszuspielen.“ In den oben bereits ausgewerteten Archiven W2 und W3 ergibt eine zeitliche Staffelung der Befunde folgende Kurve:

Man achte zunächst auf die Beschriftung der y-Achse: Diese Redeweise über 20 mal so häufig. In diachroner Sicht fällt auf, dass die Verwendungshäufigkeit über lange Zeit recht stabil war. Ob die fallende Kurve seit 2011 (W2) bzw. im Jahr 2015 (W3) aussagekräftig ist, vermag man jetzt noch nicht zu sagen. Dass die zunehmende Rede von Chancen kreieren die überkommenen Redeweisen verdrängt hätten, kann man jedenfalls als widerlegt betrachten.

Fazit: Die Rede vom Chancen kreieren hat das Fußballvokabular bereichert und ausdifferenziert. Zu den etablierten und nach wie vor dominanten Redeweisen vom Chancen herausspielen usw. hat sich eine neue dazugesellt, die aber insgesamt an der Tradition kaum rütteln kann. Im nächsten Schritt müsste man die Kookkurrenzprofile beider Redeweisen kontrastierten. Erste Stichproben zeigen, dass Chancen kreieren häufig in der 1. Person Plural, also in Interviews und Pressekonferenzen formuliert und dann so zitiert wird, während Chancen herausspielen eher der in 3. Person formuliert wird und die bevorzugte Redeweise in journalistischen Passagen ist. Ist bei kreieren das Pronomen wir ein hochsignifikanter Kollokator, ist es bei erarbeiten das Reflexivpronomen sich (und eben nicht uns):

Man könnte also die These aufstellen, dass Chancen kreieren eher ein Ingroup-Ausdruck ist, den Journalisten bewusst als solchen ausborgen oder gar explizit als fremde Rede markieren. Dem gehe ich in einem späteren Post nach.