Der allseits bekannte Fußballphilosoph (und Inhaber der DFB-Trainer-Lizenz, wie der Deutschlandfunk nicht müde wird zu betonen) Wolfram Eilenberger hat neulich in einer seiner Kabinenpredigten die „Idiotie mit dem Ballbesitz“ hart gegeißelt. Die Messgröße Ballbesitz sei ein Blindwert, der mit dem tatsächlichen Spielgeschehen nicht in ein analysetaugliches Verhältnis zu bringen sei. Trotzdem dominiere das Gerede vom Ballbesitz die Analysen der Trainer und Experten, womit Eilenberger Schluss machen möchte, und zwar am liebsten sofort.

Die Diagnose des alles beherrschenden Ballbesitzgeredes klingt plausibel. Sie müsste aber diachron spezifiziert werden. Das Wort ist zwar seit den Sechziger Jahren nachzuweisen (siehe den frühesten Beleg vom 8.6.1962 in Die Zeit), doch scheint es erst in in den letzten Jahren wirklich prominent geworden zu sein. Ist das so? Wir müssen glücklicherweise nicht spekulieren und überprüfen es empirisch.

Ballbesitz diachron

Auf der Corpus Workbench von fussballlinguistik.de liegen zwei Korpora mit sämtlichen jeweils 3060 Spielberichten und Livetickern aus zehn kompletten Bundesligaspielzeiten 2006-2016 von kicker.de, anhand derer man die Verwendungshäufigkeiten des Wortes Ballbesitz nach Spielzeiten gestaffelt auszählen kann. Da aber die Texte selbst mit der Zeit immer umfangreicher werden, genügt natürlich nicht die absolute Häufigkeit; man muss sie mit der Gesamtzahl der Wörter pro Spielzeit verrechnen.

Das folgende Diagramm zeigt die Vorkommenshäufigkeiten von Ballbesitz pro Millionen Wörter in den beiden genannten Textsorten:

Ballbesitz_diachron

Man sieht einen textsortenübergreifenden Trend: Seit 2007 nimmt die Verwendung zu, erreicht um das Jahr 2014 herum ihren Höhepunkt und nimmt seitdem wieder ab. Das Reden über Ballbesitz ist oder besser: war eine Modeerscheinung, deren Blütezeit vielleicht nicht zufällig in die Zeit fällt, als Pep Guardiola Trainer des FC Bayern wurde und, so die gängige Deutung, mit bedingungslosem Ballbesitzfußball dem Rest der Liga enteilte. Doch schon bald darauf wurde immer häufiger geunkt (und ganz besonders in diesem Sommer bei der EM in Frankreich), dass bloßer Ballbesitz eben doch brotlose Kunst sei. Die kicker.de-Redakteure jedenfalls sprechen schon noch von Ballbesitz, aber eben immer seltener, als ob ihnen schon schwant, dass Ballbesitz vielleicht doch nicht so entscheidend ist.

Eine Ideengeschichte des Fußballs?

Die bloße Verwendungshäufigkeit eines Wortes sagt natürlich nur bedingt etwas über die Entwicklung des damit bezeichneten Phänomens aus. Ballbesitz und auch das Streben nach Ballbesitz hat es wohl immer gegeben. Entscheidend ist aber, dass Ballbesitz, der wenigstens in seiner quantifizierbaren Fassung (man spricht von mehr oder weniger Ballbesitz und gibt prozentuale Verteilungen an) ohnehin eine analytische Größe ist, zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maße erwähnenswert ist. So gesehen sagen die obigen Kurven etwas über sich wandelnde Fußballideale aus, die in einer Ideengeschichte des Fußballs zu beschreiben wären.

Zusammen mit dem Ballbesitzfußball hat Alex Raack neulich auch das Tiki Taka zu Grabe getragen. Das Wort Tiki Taka ist für diachrone Analysen insgesamt zu selten. Doch das Siechtum seines besten Freundes Ballbesitz zeigt, dass auch Tiki Taka schon länger malad war.