Der Fußballliveticker ist eine recht junge Textsorte. Seit wann genau Internetseiten ihn anbieten, weiß ich nicht, aber wenigstens die Liveticker-Archive von weltfussball.de und kicker.de reichen nicht weiter als bis ins Jahr 2002 zurück, und erst zur Saison 2003/04 wurde eine ganze Bundesligasaison durchgängig getickert. Andererseits ist mit nunmehr 17 Jahrgängen die Textsorte auch nicht mehr ganz so neu, so dass man schon jetzt ein paar textsortenhistorische Überlegungen anstellen kann.

Mein gemeinsam mit Jürgen Hermes aufgesetztes Twitter-Projekt @retrolivetext zielt in diese Richtung, da es vor Augen führt, dass Liveticker noch vor 15 Jahren viel roher, chauvinistischer, nationalistischer waren als heute (Meier 2020). Und auch in rein quantitativer Perspektive kann man Veränderungen feststellen.

Bei der Zusammenstellung meiner Livetickerkorpora war mir immer schon aufgefallen, dass Liveticker über die Jahre länger werden. Dem bin ich jetzt mal genauer nachgegangen und habe hierfür neben der Textlänge auch andere Parameter wie Anzahl und Länge der einzelnen Tickermeldungen erhoben. Außerdem habe ich einen automatisierten Satzerkenner drüberlaufen lassen und auch Anzahl und Länge der Sätze ausgezählt.

Quantitative Befunde

Zunächst bestätigt sich bei exakter Auszählung, dass die Liveticker zunächst länger wurden:

Einen deutlichen Sprung gab es im Jahr 2006 – vermutlich ein Effekt der Weltmeisterschaft in Deutschland, aus deren Anlass das mediale Angebot zum Fußball massiv ausgebaut worden war. Und auch im WM-Jahr 2010 gibt es einen Sprung. Interessant ist aber auch, dass die Textlänge in den letzten Jahren stagniert und in der Corona-Saison 2019/20 sogar zurückgegangen ist.

Ein anderes Bild ergibt sich bei der Anzahl der Meldungen pro Text.

In der ersten Saison waren das noch durchschnittlich 75 Stück, allerdings mit starken Ausreißern nach oben und unten, so dass sowohl der Spitzenwert von 157 Meldungen als auch der niedrigste Wert von 15 Meldungen in diese Saison fallen. In den Folgejahren ging die Taktzahl dann zunächst runter, um dann zwischen 2006 und 2011 wieder zuzunehmen. Seitdem sinkt sie wiederum und scheint sich nun so um 75 herum einzupendeln. Nicht uninteressant, wenn man sich überlegt, dass Livetickermeldungen normalerweise eine berichtenswerte Szene schilden. Abzüglich der Meldungen vor und nach dem Spiel sowie während der Halbzeiten bleiben dann geschätzte 60 Meldungen auf 90 Minuten.

Auch bei der Länge der einzelnen Livetickermeldungen zeigt sich ein steigender Trend. Waren sie anfangs noch sehr kurz, hat sich die Länge inzwischen mehr als verdoppelt.

Anfangs hatte man noch knappe Meldungen formuliert, die ganz ähnlich wie die mündlichen Livereportagen oft aus verblosen Sätzen bestehen:

Flanke von Deisler von links, aber genau in die Arme von Nikolov.

https://www.weltfussball.de/spielbericht/bundesliga-2003-2004-bayern-muenchen-eintracht-frankfurt/liveticker/

Eine prinzipiell vergleichbare Szene wird im Jahr 2019 mit deutlich mehr Vorlauf so beschrieben:

Am rechten Flügel sieht sich Lukebakio zwei Gegenspielern gegenüber und passt gefährlich durch beide hindurch ins Zentrum. Dort klärt Guilavogui erneut vor die Füße des ehemaligen Düsseldorfers. Am Ende landet die Flanke des von ihm bedienten Klünters aber bei Casteels.

https://www.weltfussball.de/spielbericht/bundesliga-2019-2020-hertha-bsc-vfl-wolfsburg/liveticker/

Schließlich habe ich noch eine syntaktisch spezifizierte Auswertung vorgenommen. Ich habe eine automatisierte Satzsegmentierung  vorgenommen (mit dem Perl Modul Lingua::Sentence) und dann die durchschnittliche Satzlänge berechnet.

In den bisherigen Aufstellungen war das Jahr 2006 immer ein Umbruchmoment, aber die Satzlänge bleibt hier stabil. Erst 2010 und 2011 gibt es hier einen deutlichen Sprung nach oben. Und nunmehr sieben Jahren ist der durchschnittliche Livetickersatz ca. 15 Tokens lang (was im Übrigen immer noch kurz ist.

Der längste Satz mit 111 Tokens stammt übrigens aus der Saison 2004/05 und lautet:

Obwohl man bei allen Wettanbietern als krasser 1:7 bis 1:10 Aussenseiter gilt, obwohl man in den letzten Wochen in der Bundesliga grottenschlechten Fußball geboten hat, obwohl es im Umfeld gerade von Seiten der Fans und von „Experten“ wie Lattek und Matthäus herbe Kritik an der Arbeit des niederländischen Trainers Dick Advocaat, obwohl ebendieser Trainer noch mehr Unruhe in die Mannschaft brachte indem er die Spieler Demo, Pletsch und Hausweiler zu den Amateuren verbannte und obwohl man immer stärker in den Abstiegsstrudel gelangt, trotz aller dieser Tatsachen liessen Spieler und Trainer in der Woche verlautbaren, dass man sich in München etwas ausrechnen könne.

https://www.weltfussball.de/spielbericht/bundesliga-2004-2005-bayern-muenchen-bor-moenchengladbach/liveticker/

Fazit

An den Auszählungen lässt sich bei aller Abstraktion vom Inhalt doch so etwas wie die Evolution einer Textsorte ablesen. Livetickerautor*innen haben anfangs sehr knapp und einfach formuliert. Über die Jahre sind die schneller geworden und haben die gewonnene Zeit in größere Komplexität investiert. Und zwar haben sie zunächst die Taktzahl der Meldungen erhöht, sie aber dann wieder heruntergefahren und dafür eher die Einzelmeldungen komplexer und meinem Eindruck nach auch schriftsprachlich normorientierter gestaltet (irgendwann will ich auch mal syntaktisches Parsing machen und die Komplexität der Syntax ganz handfest messen).

Und noch etwas: Nach fast allen hier angelegten Kriterien haben sich die Liveticker in der Corona-Saison 2019/20 wieder etwas reduziert. So wie fast die ganze Welt alles ein wenig heruntergefahren hat, so sind auch Liveticker in diesem Jahr tendenziell kürzer und einfacher geworden. Ob’s am fehlenden Publikum liegt, was dann auch den Verve der Livetickerautor*innen dämpft?

Literatur

Meier, Simon (2020): Blogs, Bots & Co. – Public Humanities in den Sozialen Medien. In: Marx, Konstanze/Lobin, Henning/Schmidt, Axel (Hg.): Deutsch in Sozialen Medien. Interaktiv – multimodal – vielfältig. Berlin, Boston: De Gruyter. S. 359–362. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2019).