Im Fußball geht es emotional zu, und auch in der medialen Berichterstattung müssen hochemotionale Spektakel inszeniert werden. Das haben auch die Fußballspieler und -trainer selbst verinnerlicht, die sich ihrer Unterhaltungsrolle im medialen Sport ja durchaus bewusst sind. In einem lesenswerten Artikel hat der Soziologie Joachim Kotthaus kürzlich dafür argumentiert, dass spontan und impulsiv wirkende emotionale Ausbrüche wie Torjubel viel stärker von einem kulturell überformten Set an allgemein verstehbaren Symbolen geprägt sind, als man auf den ersten Blick meinen könnte, und so an die Deutungsgewohnheiten der zu unterhaltenden Zuschauer angeschlossen werden. Das sieht man spätestens dann, wenn man historisches Filmmaterial sichtet, wo Tore und Siege noch auf Weisen bejubelt werden (z.B. hüpfend und die Fäuste in den Himmel gereckt), die heute eher deplatziert wirken würden (vgl. hierzu: A. Linke (2009): Sprache, Körper und Siegergesten. In: Fehr/Folkers (Hg.): Gefühle zeigen. Zürich, S. 165–202). Mit anderen Worten: Im jeweils aktuellen Fußball sind emotionale Ausdruckshandlungen erlaubt und gefordert, die an anderen Orten und zu anderen Zeiten unpassend wären.

Und das gilt interessanterweise nicht nur für die Ausdruckshandlungen selbst, sondern auch für ihre sprachlichen Bezeichnungen. Das kann man an den sogenannten Somatismen sehen, also verfestigte Wortverbindungen, die wörtlich Körper(-teile) oder Körperreaktionen beschreiben, aber in ihrer phraseologischen Bedeutung Emotionen bezeichnen wie z.B. einen dicken Hals haben, kalte Füße bekommen usw.

Im Fußball gibt es nun mit sich die Haare raufen einen Fall, wo sowohl die Ausdruckshandlung selbst als auch die entsprechende Bezeichnung ein im Vergleich zu anderen Domänen eigenes Leben führen. Sich vor Verzweiflung oder Ärger die Haare raufende Gestalten kennt man seit Jahrhunderten aus der Literatur (hub sie an die Threnen zu vergiessen/ rauffte jhr Haar auß/ vnd warff den Schmuck auff die Erden), und ein Blick in das DWDS-Kernkorpus zeigt, dass dieser Somatismus tatsächlich vor allem in fiktionalen Texten vorkommt. Ebenfalls gebräuchlich ist er in Pressetexten, hier aber in rein übertragener Bedeutung, ohne dass damit die tatsächliche Ausführung der entsprechenden Ausdruckshandlung angezeigt wäre (Beim Deutschen Gewerkschaftsbund raufte man sich die Haare wegen der Überstunden-Statistik.) Die Tendenz scheint also zu sein, dass sich der Somatismus immer mehr phraseologisiert und das ursprüngliche körperliche Substrat verloren geht.

Im Fußball lebt das Haare raufen fort

Nicht so im Fußball: Hier rauft man sich nach wie vor die Haare, sowohl in tatsächlicher Ausführung als auch in der sprachlichen Beschreibung des Geschehens. Auf geradezu ikonenhafte Weise zuletzt im WM-Vorrundenspiel gegen Südkorea, als Mats Hummels seinen Kopf- äh sorry, Schulterball über das Tor setzte. Das Foto ging als Symbolbild für den Misserfolg und die eigene Konsterniertheit des deutschen Teams durch alle Zeitungen und Onlineportale, bei 90min.de sogar unter ausdrücklicher Verwendung des Phraseologismus:

Auch im Deutschen Referenzkorpus landet man bei der Suche nach Belegen für Haare raufen erstaunlich oft beim Fußball. Quer durch die Archive zeigt eine Auszählung nach Themen, dass die relative Häufigkeit dieses Phraseologismus im Thema „Fußball“ meist die größte ist und allenfalls vom Thema „Fiktion“ übertroffen wird. Auch in Texten über Filme und Theater kommt er oft vor, aber eben noch häufiger in Texten über Fußball. Dass sich Spieler und Trainer nach vergebenen Chancen die Haare raufen, ist offenbar völlig normal, und der andernorts seiner Körperlichkeit entledigte Phraseologismus, der allenfalls noch in Romanen oder auf der Bühne überhaupt mit tatsächlichem Ausdruckshandeln verbunden ist, lebt im Fußball fort. Das Epische und Dramatische des Fußballs wird in diesem kleinen Detail greifbar.