[Dieser Text erschien zuerst auf dem Blog Public Humanities, hrsg. v. Lisa Kolodzie, Mareike Schumacher, Melanie Seltmann und Daniel Brenn. Er sollte darum auch so zitiert werden:
Meier-Vieracker, Simon (2021): „Public Humanities als offene Bühne oder: Warum Wissenschaft in Social Media auch Spaß machen soll“. In: Kolodzie, Lisa, Schumacher, Mareike, Seltmann, Melanie und Brenn, Daniel (Hrsg.): Public Humanities. https://publicdh.hypotheses.org/93.]
Ich liebe Social Media. Und ich nutze Social Media intensiv und in ihrer ganzen Bandbreite: Ich habe einen eigenen Blog (fussballlinguistik.de), bin Autor und Redaktionsteammitglied eines gemeinschaftlichen Wissenschaftsblogs (lingdrafts.hypotheses.org), habe einen Twitteraccount (bzw. gleich mehrere, s.u.), produziere verschiedene Podcasts, bespiele einen Instagram-Account und einen YouTube-Kanal über die Professur und dann kommt auch noch TikTok dazu. Nur Facebook habe ich aufgegeben, weil hier eigentlich nichts (mehr) passiert, was mich interessiert.
Das Ganze kostet sehr viel Zeit, aber es ist essentiell für meine wissenschaftliche Arbeit. Die Digital Humanities-Szene vernetzt sich bekanntlich vor allem über Twitter, und wer hier nicht wenigstens mitliest, verpasst viel. Neue Publikationen, Projekte, Veranstaltungen aller Art, Konzepte für die Lehre und nicht zuletzt Tools – von all dem erfährt man nirgends so zuverlässig und schnell wie auf Twitter. Und da mir auf Twitter viel geboten wird, versuche ich auch viel zurückzugeben. Gerne platziere ich dort kleine korpuslinguistische Analysebefunde. Oft dienen sie mir als eine Art Testballon, wenn sie auf Interesse stoßen, mache ich einen Blogpost und vielleicht sogar eine ‚richtige‘ wissenschaftliche Publikation daraus. Ich poste aber auch spontane Gedanken zu linguistischen Fragestellungen für den direkten Austausch mit meinen Fachkolleg:innen. Und natürlich nutze ich Twitter auch zur Ausstellung unserer Aktivitäten, insbesondere die an unserer Professur. Insbesondere in der Lehre passieren und entstehen in der Zusammenarbeit mit den Studierenden manchmal wunderbare Dinge (z.B. studentisch produzierte Videos oder Podcasts), und die verdienen einfach eine größere Bühne als nur die Seminaröffentlichkeit.
Partizipative Wissenschaftskommunikation
Das mag ein wenig eitel und aufmerksamkeitsheischend klingen und ist es manchmal vielleicht auch. Aber ich bin ja auch froh, wenn die anderen ähnliches tun und mir Inspiration geben. Gerade in der Lehre habe ich so sehr von den Ideen anderer profitiert, die mir ohne die Zurschaustellung auf Twitter gar nicht zugänglich gewesen wären. Und ich würde mir tatsächlich wünschen, dass noch viel mehr aus dem Lehrkontext den Weg in die Social Media Öffentlichkeit finden würde, zumal das erfahrungsgemäß von den Studierenden als große Anerkennung wahrgenommen und geschätzt wird. Was hier möglich wird, darauf hat auch schon Jürgen Hermes in seinem Beitrag zu dieser Blogreihe hingewiesen, ist Wissenschaftskommunikation in einer ausgesprochen partizipativen Weise. Wissenschaftskommunikation, die nicht nur abgeschlossene Forschungen in eine passiv rezipierende Öffentlichkeit hineintransferiert, sondern auch kleinere und vorläufigere Formen auf einer öffentlichen Bühne diskutiert und dabei eine Vielzahl von Akteur:innen einbindet: Von den Studierenden bis hin zu den User:innen, welche sich in Replies und Kommentaren an der Diskussion beteiligen können. Und Public Humanities in meinem Verständnis sollten gerade das leisten: Die Etablierung von „Räumen zur Vermittlung und gemeinsamen Reflexion von Gegenständen und Ergebnissen geisteswissenschaftlicher Forschung“ (Meier 2020: 359). Social Media eignen sich bestens dafür.
Die offene Bühne als Metapher
Für die besonderen Potenziale von Social Media für die Public Humanities möchte ich die Metapher der offenen Bühne vorschlagen. Die Idee, dass sich Social Media als eine Art Showroom deuten lassen, wo nicht nur gehandelt, sondern das Handeln auch gezeigt wird, hat Konstanze Marx (2019: 246) u.a. am Beispiel von Trauerpraktiken entfaltet. Mit dem Konzept der offenen Bühne möchte ich noch einige weitere Aspekte einfangen, die mir für die Public Humanities typisch und auch wichtig erscheinen. So sind auf offenen Bühnen verschiedene Darbietungsformen zugelassen, die gerade nicht fertig ausgearbeitete und professionelle Shows sind. Vielmehr steht ihr, und hier möchte ich den knappen Wikipedia-Eintrag zur offenen Bühne zitieren, „Erprobungscharakter“ im Vordergrund, der für die Darbietenden die Chance bietet, Neues zu probieren. Auch das Publikum kann hier Dinge erleben, die erst im Entstehen sind und denen man darum auch ansieht, wie sie gemacht sind. Auf der offenen Bühne, die blutigen Anfänger:innen ebenso offensteht wie Routiniers, wechseln sich verschiedene Acts in eher rascher Reihenfolge ab. Vor und nach den Auftritten verschwinden die Darbietenden nicht im Backstage-Bereich, sondern sind selbst Teil des Publikums. Und weil die Bühne mit kleineren Formen bespielt wird, ist das Publikum auch nicht zur andauernden Aufmerksamkeit verpflichtet: Niemandem wird verübelt, wenn er oder sie zwischendurch doch mal lieber zur Bar rübergeht, um ein wenig zu plaudern, mit Zuschauenden und vielleicht auch mit anderen Darbietenden.
Vieles von dem, was Public Humanities in Social Media auszeichnet, lässt sich elegant in das Setting der offenen Bühne einfügen. Die kleinen Darbietungsformen finden in den medialen Formaten von Tweets, Instastories oder TikTok-Videos eine Entsprechung, die sich in den Timelines in rascher Folge abwechseln. Wissenschaftler:innen, Arrivierte ebenso wie Noviz:innen, dürfen hier Vorläufiges präsentieren, was allen anderen die Chance bietet, Wissenschaft im Entstehen zu erleben. Die Anschlusskommunikationen, die sich in den Replies und Kommentaren ereignen, zeigen, welches dialogische Potenzial gerade die Vorläufigkeit bietet, zumal die meisten Rezipierenden selbst Darbietende sind oder zumindest sein können. Und auch wenn die Präsentationen um Aufmerksamkeit buhlen, haben sie doch keinen Anspruch darauf. In den dynamischen und immer auch algorithmisch gesteuerten Timelines sind die einzelnen Beiträge Kommunikationsangebote, die anzunehmen niemand verpflichtet ist.
Noch in einer weiteren Hinsicht finde ich die Metapher der offenen Bühne für die Beschreibung von Public Humanities in Social Media instruktiv: Die Offenheit für verschiedenste Darbietungsformen generiert auch Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Kunst und Unterhaltungsmedien. Ein TikTok-Video kann und soll Spaß machen, es kann den oder die Wissenschaftler:in als Person ins Zentrum stellen und kann trotzdem einen Beitrag zur Vermittlung von Wissenschaft leisten. Denn Wissenschaft geht ja nicht in den nackten wissenschaftlichen Ergebnissen auf, sondern ist auch eine Lebensform, inklusive Alltag und kleineren Auszeiten. Und auch auf Twitter ist ein verspielter Stil bei den Inhalten und den Weisen der Darstellung meines Erachtens legitim und dem Medium und seinen aufmerksamkeitsökonomischen Rahmenbedingungen vielleicht sogar besonders angemessen.
Zum Beispiel Twitterbots
All das gilt auch für ein Format, das ich den vergangenen Jahren intensiv genutzt habe und ganz explizit als Instrument der Public Humanities verstehe, nämlich Twitterbots. Sie sind sozusagen ein Showact-Typus, mit dem ich die offene Bühne der Public Humanties besonders gerne bespiele. Mit Twitterbots kann man kleinere computerlinguistische Tasks in einem niedrigschwelligen Format auf unterhaltsame und transparente Weise vorführen und nachvollziehbar machen. Sie bieten außerdem einen laufend bespielten Publikationskanal, der idealerweise auch Vernetzungsmöglichkeiten nicht nur mit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit bietet. Eine Liste mit meinen Bots findet sich hier (einige von ihnen nutzen übrigens den von Jürgen Hermes in diesem Blog vorgestellten Service AutoChirp). Darunter sind etwa ein Bot, der aus einem umfangreichen Roman-Korpus „Sätze, die mit ‚und‘ beginnen“ twittert, ein Bot, der Romantitel nach dem Muster „Der X des Y“ (wie etwa „Der Schatten des Windes“) zufällig rekombiniert sowie ein Bot, der auf Grundlage der Korpora des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache ausbuchstabiert, was es konkret bedeuten kann, dass Satire alles darf.
Der „Livetickergenerator“
Als etwas avancierteres Beispiel möchte ich hier aber meinen Bot @randomlivetext herausgreifen, der auf der Grundlage meiner öffentlich zugänglichen Korpora zur Fußballlinguistik (Meier 2017) nach einem kombinatorischen Prinzip zufällige Livetickermeldungen generiert. Die Konzeption des Bots leitet sich aus korpuslinguistischen Forschungsergebnissen zur Formelhaftigkeit von Fußballlivetickern (Meier 2019) her. So haben die Analysen hochfrequent genutzte teilschematische Satzrahmen wie etwa nach {Adjektiv} {Substantiv} ergeben, die mit einem äußerst umfangreichen Set an Füllwerten zu kreativ wirkenden Formulierungen konkretisiert werden. Diese analytischen Befunde kehrt der Bot sozusagen ins Produktive und setzt die zuvor in Korpusabfragen erhobenen Füllwerte in eine begrenzte Zahl von Satzschablonen auf zufälliger Basis ein.
Die Namen der Spieler werden den aktuellen Kaderlisten sowie den aktuellen Spielplänen des gerade getickerten Wettbewerbs (hier: die Männer-EM 2021, normalerweise jedoch die 1. Bundesliga der Männer) entnommen. Auf diese Weise generiert der Bot oft skurril wirkende Livetickermeldungen zu den jeweils aktuellen Partien. Indem den Meldungen in der für Twitter typischen Weise Hashtags beigegeben werden, die sich aus den Akronymen der beteiligten Mannschaften zusammensetzen, mischen sich die so generierten Livetickermeldungen in den vielstimmigen, auch von Fans, Vereinen und redaktionellen Medien bespielten und durch eben diese Hashtags gebündelten Fußballlivediskurs. Zu den großen Turnieren setze ich jeweils Special Editions auf, und auch zu kleineren Ligen wie etwa der Schweizer Super League oder zur Frauenfußball-Bundesliga gab es Special Editions, bei denen mir ganz im Sinne der Citizen Science mit den jeweiligen Ligen vertraute Personen geholfen haben, etwa indem sie mich mit typisch schweizerischen Jargonausdrücken und Spitznamen versorgt haben, die dann in den Algorithmus implementiert wurden.
Mit zwischenzeitig über 1000 Follower:innen unterschiedlichster Provenienz hat es der Bot zu einer ansehnlichen Popularität gebracht und ist sozusagen auf vielen offenen Bühnen auch jenseits des engen Wissenschaftszirkus zu sehen gewesen. Der unter Fußballfans weitverbreiteten Hassliebe zur Phrasenhaftigkeit der Fußballberichterstattung (Hauser/Meier 2018) kommt er offenbar entgegen, und trotz der Skurrilität und mitunter auch Inkohärenz der generierten Texte treffen die Tweets den registertypischen Duktus offensichtlich so sehr, dass ihr Wiedererkennungswert groß ist. Kurzum: Der Bot ist lustig und soll es auch sein. Auch einen künstlerischen Anspruch möchte ich dem Bot gerne zuschreiben, erinnert doch das zugrundeliegende kombinatorische Prinzip an die Textgenerierungen im Rahmen der Konkreten Poesie, die schließlich auch ein Revival in Form von Twitterbots erlebt (Schlesinger 2020). Über ein reines Spaßprojekt hinaus verfolgt der Bot aber durchaus auch seriöse Ziele, und zwar gerade dadurch, dass die Textgenerierung transparent gemacht wird. Das Skript zum Bot ist auf GitHub in einer freien Lizenz verfügbar, und auch die Erhebung der Füllwerte kann über die Korpora zur Fußballlinguistik nachvollzogen und reproduziert werden. Der Bot kann so den computerlinguistischen Task der Textgenerierung, der in der Fußballberichterstattung ja längst kommerziell eingesetzt wird, methodisch transparent machen, und zwar in einem spielerisch-unterhaltsamen Rahmen. Der methodische Aspekt ist sozusagen ein Angebot, das von Interessierten aufgegriffen werden kann, aber nicht muss. Auch zu den medienkritischen Diskursen, die auch auf Twitter mit Blick auf eine zunehmend automatisierte Fußballberichterstattung geführt werden, wird der Bot mitunter als Kommentar gelesen. Das war so von mir nie beabsichtigt, aber es ist natürlich eine legitime und auch interessante Lesart. Wiederum andere haben einfach Spaß an den Livetickermeldungen, und wahrscheinlich ist das Tränen lachende Smiley die häufigste Reaktion in den Replies und Retweets.
Let me entertain you
Ich finde das nicht nur in Ordnung so, sondern sehe es als eine schöne und zu den üblichen akademischen Umgangsformen in wohltuendem Kontrast stehende Anerkennung meiner Arbeit. Auf der offenen Bühne der Public Humanities in Social Media haben gerade solche Formate, welche Unterhaltung, Kunst und wissenschaftlichen Anspruch verbinden, ihren Ort und auch Aussicht auf Erfolg. Wenn es das Ziel der Public Humanities ist, in und mit der Öffentlichkeit über Gegenstände und Methoden digitaler Forschung zu reflektieren, dann sollte sie sich auch solchen unterhaltsamen Formaten nicht versperren.
Literatur
Hauser, Stefan/Meier, Simon (2018): „Das ist ’ne Phrase? Dann sind alles Phrasen!“ – Feste Wortverbindungen und ihre metapragmatische Thematisierung in der TV-Talkrunde Doppelpass. In: Aptum 2018 (2), S. 157–174.
Marx, Konstanze (2019): Von #Gänsehaut bis #esreicht – Wie lässt sich ein Territorium neuer Sagbarkeit konturieren? Ein phänomenologischer Zugang. In: Eichinger, Ludwig/Plewnia, Albrecht (Hg.): Neues vom heutigen Deutsch. Berlin, Boston: De Gruyter. S. 245–264. 10.1515/9783110622591-012
Meier, Simon (2017): Korpora zur Fußballlinguistik – eine mehrsprachige Forschungsressource zur Sprache der Fußballberichterstattung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 45 (2), S. 345–349. 10.1515/zgl-2017-0018
Meier, Simon (2019): Formulaic language and text routines in football live text commentaries and match reports – a cross- and corpus-linguistic approach. In: Callies, Marcus/Levin, Magnus (Hg.): Corpus approaches to the language of sport. Texts, media, modalities. London: Bloomsbury. S. 13–35. (= Research in Corpus and Discourse). 10.5040/9781350088238.ch-002
Meier, Simon (2020): Blogs, Bots & Co. – Public Humanities in den Sozialen Medien. In: Marx, Konstanze/Lobin, Henning/Schmidt, Axel (Hg.): Deutsch in Sozialen Medien. Interaktiv – multimodal – vielfältig. Berlin, Boston: De Gruyter. S. 359–362. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2019). 10.1515/9783110679885-021
Schlesinger, Claus-Michael (2020): Kafka stochastisch. Rekontextualisierung und Recodierung in computergestützten Textgeneratoren. In: Meier, Simon/Viehhauser, Gabriel/Sahle, Patrick (Hg.): Rekontextualisierung als Forschungsparadigma des Digitalen. Norderstedt: Books on Demand. S. 1–20. (= Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 14).
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