Eine schöne Textsorte der Fußballberichterstattung sind Einzelkritiken, also jene kurzen Texte, in denen die Leistungen der einzelnen Spieler in einigen Sätzen bewertet werden. Es sind also sprachlich ausformulierte Fassungen zu den Spielernoten, die der kicker seit der Gründung der Bundesliga nach jedem Spieltag für jeden einzelnen Spieler vergibt. Und ein besonderer Glücksfall für korpuslinguistische Zwecke sind die Einzelkritiken von spox.com, die Noten und erläuternde Texte kombinieren.
Schon vor längerem habe ich die textidentisch auf sportal.de publizierten Einzelkritiken der Saisons 2012–2016 heruntergeladen und als Korpus so aufbereitet, dass die Noten als Metadaten zur Verfügung stehen und die Texte entsprechend gruppiert und kontrastiv ausgewertet werden können (und wenn der Anbieter endlich auf meine Anfrage reagieren würde, könnte ich das Korpus auch veröffentlichen). Insgesamt 29 570 Texte im Umfang von 1,48 Mio. Tokens.
Material für eine Linguistik des Bewertens
Für die in den 80er Jahren schon einmal und seit ein paar Jahren wieder sehr lebendige linguistische Forschung zu Bewertungspraktiken sind die Texte eine wunderbare Fundgrube, vor allem, weil man hier gar nicht erst überlegen muss, ob und wie die Texte bewerten. Sie tun es immer und auf jeden Fall, allein schon durch die beigegebene Note, die auch den scheinbar deskriptivsten Formulierungen eine wertende Lesart geben. Nehmen wir nur mal den folgenden Fall:
Stand auf dem Spielberichtsbogen.
K. Ilsö, Note 6,0
Nicht erst, aber auch durch die Note 6,0 wird deutlich, dass mit dieser bloßen Feststellung eigentlich etwas ganz anderes gesagt ist.
Was unterscheidet gut von sehr gut?
Die Noten mit ihrer recht feinen Skalierung in .5er-Schritten machen es außerdem möglich, ganz präzise nachzuvollziehen, wie und mit welchen sprachlichen Mitteln Abstufungen in den Bewertungen vorgenommen werden. Wie etwa markiert man den Unterschied zwischen gut und sehr gut, zwischen knapp überdurchschnittlich und Mittelmaß?
Neben wertenden Adjektiven wie überragend, solide oder katastrophal kommen hierfür insbesondere quantifizierende Ausdrücke wie die Indefinitpronomen einige und viele oder auch Adverbien wie immer in Betracht. Entscheidend ist also, ob jemand einige, viele oder alle Zweikämpfe gewinnt, ob jemand nie, selten, oft oder immer souverän verteidigt.
Die Verteilung solcher Ausdrücke über die einzelnen Noten hinweg lässt sich gut in Diagrammen darstellen, und so zeigt sich, dass die Autor*innen der Einzelkritiken tatsächlich mit genau solchen sprachlichen Mitteln arbeiten, um Feinabstufungen vorzunehmen. Am Beispiel der denkbar allgemeinsten wertenden Ausdrücke stark/schwach sei zunächst das Verfahren erläutert (leider sind die interaktiven Diagramme nicht wirklich smartphonetauglich):
Man sieht wenig überraschend eine gegenläufige Verteilung. Man sieht aber auch Knicke an den äußeren Ende. Stark/schwach ist für sehr gute/schlechte Noten eben nicht ausreichend, hier braucht es noch verschärftere Varianten wie sensationall/desaströs.
Besonders interessant sind aber die Aufstellungen für die genannten quantifizierenden Ausdrücke, die meine obige Überlegung im Großen und Ganzen bestätigen:
Während jene und alle Vollständigkeit ausdrücken und deshalb für die äußeren Notenbereiche typisch sind, ist es bei einige, wenige und viele gerade umgekehrt: Sie sind eher für die durchschnittlichen Noten typisch und werden für Spieler verwendet, denen eben einiges, aber nicht alles gelungen ist. Und eine ganz ähnliche gegenläufige Verteilung lässt sich auch für die Temporaladverbien zeigen:
Ob die spox-Autor*innen wohl wissen, wie systematisch sie mit diesen feinen sprachlichen Details arbeiten? Fans werfen ihnen ja oft vor, in ihren Bewertungen zu wenig objektiv zu sein. Aber zumindest die Abstufungen innerhalb des Systems scheinen ausgesprochen regelhaft zu sein.
Literatur: Meier, Simon (2019): Einzelkritiken in der Fußballberichterstattung. Evaluativer Sprachgebrauch aus korpuspragmatischer Sicht. In: Muttersprache 129, S. 1–23.
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