Evolution der Formationen

Eines der grundlegenden Verfahren der Beschreibung von Fußballtaktik ist die Bestimmung von Spielformationen, jenen schematischen Anordnungen der Spieler einer Mannschaft auf dem Feld, die typischerweise als Zahlenkombinationen angegeben werden. Zwar sagt die Formation selbst noch wenig darüber aus, wie eine Mannschaft tatsächlich spielt, aber sie disponiert eben doch für bestimmte taktische Ausrichtungen und wird deshalb in Taktikanalysen gerne als Beschreibungs- und Erklärungsmittel eingesetzt.

Das gilt für die Mainstream-Presse wie die Spielberichte auf kicker.de, und es gilt natürlich noch mehr für die kenntnisreichen Taktikanalysen auf Taktikblogs wie spielverlagerung.de, wo eigentlich kaum eine Analyse ohne diese Zahlenspiele auskommt. In Zahlen: Von 3060 Bundesliga-Spielberichten (2006–2016) von kicker.de werden in gerade einmal 160 Spielberichten solche Zahlenkombinationen genannt, bei einer relativen Häufigkeit von 106 pro Mio. Tokens. Bei spielverlagerung.de dagegen sind sie  in 1.575 von insgesamt 1.684 Texten zu finden, und die relative Häufigkeit ist mit 3.584 pro Mio. Tokens mehr als dreißig Mal so hoch.

Ein Panorama der Formationen

Mit regulären Ausdrücken lassen sich in den Korpora zur Fußballlinguistik bequem alle Instanzen der Zahlenkombinationen recherchieren – z. B. mit \d-\d-* – und dann nach Häufigkeit sortieren. Für die folgende Aufstellung habe ich sämtliche im Spielberlagerungskorpus verfügbaren Artikel der Rubrik Bundesligaclubs entsprechend durchsucht, unter den 7.183  Treffern alle Komposita (wie etwa 4-1-2-3-Formation) aufgelöst und dann die Types nach absteigender Frequenz sortiert. Gefunden habe ich also 179 verschiedene Formationen, die den Idealhorizont eines wahrhaft flexiblen Teams abstecken:

4-4-2
4-2-3-1
4-3-3
4-1-4-1
4-4-1-1
4-5-1
4-1-3-2
4-3-1-2
5-3-2
4-3-2-1
5-4-1
4-2-2-2
4-4-1
3-5-2
3-4-3
4-2-4
3-4-2-1
3-4-1-2
5-2-3
3-1-4-2
4-4-2-0
4-1-2-3
4-2-1-3
4-3-3-0
4-2-4-0
5-2-2-1
6-3-1
4-1-3-1-1
2-3-5
3-2-4-1
3-3-4
5-2-1-2
4-1-2-2-1
4-3-2
5-3-1-1
3-3-1-3
3-3-2-2
4-5-1-0
4-2-3
5-3-1
3-3-3-1
2-3-2-3
3-2-2-3
4-1-2-1-2
2-4-1-3
3-5-1-1
4-3-1-1
4-3-3(-0)
5-1-2-2
5-5-0
2-4-4
3-1-2-1-3
3-1-5-1
4-1-1-3-1
6-2-1-1
3-1-3-3
3-2-5
4-1-3-1
4-1-5-0
4-2-0-4
5-1-3-1
2-3-4-1
2-4-3-1
2-5-3
3-6-1
4-1-3-0-2
4-1-5
4-2-2-1
4-3-1-1-1
4-5-0-1
4-6-0
1-4-4-1
2-1-2
2-3-3-2
2-4-2-2
3-1-2-3-1
3-1-2-4
3-2-3-2
3-4-2
3-4-3-0
4-1-2-3-0
4-4-0-2
4-4-2(-0)
4-5-0
5-0-4-1
5-2-3-0
6-2-1
1-2-1
1-2-3-4
1-3-3-3
1-4-3-2
2-1-4-3
2-2-5-1
3-1-4-1
3-2-1-4
3-4-3(-0)
3-4-4
4-0-4-2
4-1-1-4
4-1-3(-0)-2
4-1-4
4-4-1-0
5-0-5
5-1-4
5-4-0
6-2-2
7-0-1-2
0-0-0
0-2-8
1-1-8
1-2-2
1-2-4-3
1-2-5-1-2
1-2-7
1-3-6
1-4-2-3
2-1-2-5
2-1-3-4
2-1-4-1-2
2-1-5-1-1
2-2-1
2-2-1-2-3
2-2-2
2-2-3-3
2-3-1-3-1
2-3-1-4
2-4-0-4
2-5-3-0
3-0-1-6
3-0-4-3
3-1-3-2-1
3-1-4-1-1
3-1-6
3-2-0-5
3-2-2-2
3-2-3
3-2-3-1
3-3-0-4
3-3-4-0
3-4-0-1-2
3-4-0-3
3-4-1-1
3-5-1
3-5-3
4-0-1-5
4-0-5-1
4-1-0-4-1
4-1-1-4-0
4-1-2-1-1-1
4-1-2-2
4-1-2-3(-0)
4-1-3-2(-0)
4-1-3-2-0
4-1-4-1(-0)
4-1-4-1-0
4-1-5(-0)
4-2-0-1-3
4-2-0-3-1
4-2-1-2
4-2-1-3-0
4-2-2-1-1
4-2-2-2-0
4-2-3-0
4-2-4(-0)
4-3-0-2-1
4-3-3-0-0
4-4-1-3
4-4-3-3
4-5-1(-0)
5-0-5-0
5-1-2-1
5-1-4-0
5-2-3(-0)
5-3-2(-0)
5-3-2-0
6-0-4
6-1-1-2
6-1-2-1
6-3-0-1

Mit einer Kollokationsanalyse (Ermittlung signifikant häufiger Wörter im Kontext) bekommt man einen Eindruck, welche Rolle die Nennung von Formationen in den Taktikanalysen spielt. Typische Kollokatoren sind neben asymmetrisch und kompakt auch Ausdrücke wie umstellen, Mischung und Variante, die zeigen, dass die Zahlenkombinationen eigentlich zu starr sind, um den Spielverlauf angemessen beschreiben zu können. Häufig ist auch der Hedge eine Art x, der zeigt, dass sich die konkrete Positionierung der Spieler oft eben nicht in das starre System der Zahlenkombinationen fügt. Auch davon, dass eine Formation auf eine bestimmte Weise interpretiert wurde, ist oft die Rede, ganz so, als sei die Taktiktafel eine Art Partitur.

Taktiktrends im Spiegel von Benennungspraktiken

Interessant wird es jetzt natürlich bei der Frage nach der Verteilung, z.B. im zeitlichen Verlauf. Die historische Entwicklung der Fußballtaktik hat schon Tobias Escher in seinem schönen Buch als eine Geschichte der jeweils zuerst bahnbrechenden und später dann typischen Spielformationen beschrieben. Versuchen wir also, die jeweils am häufigsten genannten Spielformationen nach Jahren gestaffelt darzustellen. Natürlich nicht in absoluten Zahlen, sondern in relativen Häufigkeiten.

Um es übersichtlich zu halten, habe ich dabei einige Vereinfachungen vorgenommen, denn ich habe

  • nur die selbstständigen Nennungen (z.B. 4-4-2) gezählt und
  • eine Fünfprozenthürde angesetzt, also nur die insgesamt acht Formationen berücksichtigt, die in mindestens einem der Jahrgänge mindestens 5% des Gesamtaufkommens ausmachen.

Die Häufigkeiten lassen sich am besten in einem Liniendiagramm visualisieren, dem man gewissermaßen die taktischen Trends in der Bundesliga seit 2011 entnehmen kann:

Hier sind die Anteile der Nennungen der einzelnen Formationen an dem Gesamtaufkommen der Zahlenkombinationen abgebildet. 2011 war also ca. jede fünfte genannte Formation ein 4-2-3-1, im Jahr 2016 nicht einmal mehr jede zehnte.

Eine solche Analyse ist natürlich sehr grobkörnig. In welchem Zusammenhang eine Formation genannt wird, fällt hier unter den Tisch. Z.B. werden negierte Formulierungen wie „kein 4-4-2“ ebenfalls gezählt. Mit der nötigen Vorsicht kann man dem Diagramm aber trotzdem ein paar interessante Hinweise entnehmen.

So scheint das System der Formationen insgesamt über die Jahre hinweg kleinteiliger geworden zu sein. 2011 decken die genannten Formationen knapp 80% des Gesamtaufkommens ab, 2017 nur noch 60%. Um in der politischen Metaphorik zu bleiben: Eine zunehmende Zersplitterung der Formationenlandschaft. Schaut man auf die einzelnen Formationen, so fällt auf, dass in den letzten zwei Jahren das 4-4-2 etwas aus der Mode gekommen zu sein scheint, auch wenn es nach wie vor die meistgenannte Formation ist. Das 4-1-4-1, 2011 noch die dritthäufigste Formation, ist 2017 fast verschwunden. Das 4-2-3-1 hingegen hat sich nach einem vorläufigen Tiefpunkt 2015 etwas erholt.

Am auffälligsten ist aber sicher zum einen das kurzzeitige Hoch, das das 4-5-1 im Jahr 2013 als kurzzeitiger Defensivstandard gegen ballbesitzorientierte Teams erlebte. Und zum anderen der Aufwärtstrend, in dem sich die beiden Formationen mit Fünferkette befinden. Vor allem das 5-3-2 hat sich aus dem Nichts auf Platz 2 vorgearbeitet.

Und anderswo?

Der Premier League eilt der Ruf voraus, auch in taktischen Belangen progressiv zu sein. Wie also haben sich die Formationen dort entwickelt? Wir schauen nach in den 1142 Taktikanalysen  von zonalmarking.net, wo die Frequenz von Zahlenkombinationen mit 2956 Treffern pro Mio. Tokens ebenfalls sehr hoch ist. Zwar behandelt zonalmarking nicht nur Premier League Spiele, aber eben doch vornehmlich. Hier ergibt die nach Jahren gestaffelte Auswertung das folgende Diagramm:

Zunächst fällt auf, dass es hier drei große, volksparteiähnliche Formationen gibt und eine ganze Reihe von Nischenformationen, die sich am Bodensatz tummeln. Bei den großen Formationen achte man auf die Gegenläufigkeit von 4-4-2 einerseits und 4-2-3-1 und 4-3-3 andererseits. Letztere hatten eine Blütephase und gehen neuerdings zurück, erstere war in der Krise und ist nun wiedererstarkt. Interessant ist auch, dass der Autor Michael Cox die eher von 3-5-2 als von 5-3-2 spricht, womit aber die gleiche Formation gemeint sein dürfte.

Fazit

Kann man von den sich hier zeigenden Benennungsmoden auf einen Wandel der tatsächlich gespielten Formationen schließen? Ich vermag das mangels Kenntnis nicht zu beurteilen. Der Unterschied zwischen einem 4-5-1 und einem 4-2-3-1 dürfte nuancenhaft sein, aber zu unterschiedlichen Zeiten wird es eben mal so, mal anders gedeutet und eben benannt. Und dieser Benennungswandel ist interessant genug.

4 Kommentare

  1. Gast 007

    woran könnte es liegen, dass 4-4-1 auf Platz 13 ist? Da fehlt ja ein Spieler.

  2. Felix Genz

    Moin
    Ich wollte mal fragen wie eine Abwehrkette mit sechs Verteidigern aussehen würde und ob es sowas schon einmal gab

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