Fußball wird nicht nur gespielt, über Fußball wird auch geredet und geschrieben. Und das so ausdauernd und ausführlich, dass sich zweifellos eine eigene Fußballsprache herausgebildet hat. Die schönste Nebensache der Welt wäre ja auch nicht halb so schön, wenn man nicht eine Sprache hätte, die, wie es der Linguist Armin Burkhardt ausdrückt, eine treffende und zugleich gruppenintegrative Kommunikation über den Sport erlauben würde. Fußballfans wissen, was eine Bogenlampe oder ein Staubsauger ist und wo der lange Pfosten steht. Was Mannschaften tun, wenn sie sich abtasten, und warum Torhüter mitunter Kirschen pflücken, all das wissen Fußballfans – und die anderen eben nicht. Und das ist ja gerade der Witz an der Sache: Eher Spezialbedeutungen bekannter Wörter als Spezialausdrücke, eher besondere Verwendungsweisen als Fachterminologien prägen die Fußballsprache und machen sie zu einer Art symbolischem Spielfeld innerhalb der Standardsprache, wo eben andere Spielregeln gelten und die all die zusammenbringen, die nach ihnen zu spielen vermögen.
Doch natürlich ist das nur die halbe Wahrheit, denn gar so undurchlässig sind die Grenzen dieses Spielfelds natürlich nicht. Der Fußball ist auch eine symbolische Projektionsfläche, die all das zu thematisieren erlaubt, was eine Gesellschaft umtreibt. Großveranstaltungen wie Weltmeisterschaften sind Anlass zu kollektiver Selbstbesinnung, die weit mehr als nur den Fußball betrifft. Über ein Spiel gegen Paris Saint-Germain wird man kaum sprechen können, ohne zugleich die Mechanismen der globalisierten Märkte und des Kapitals zu thematisieren. Um es wieder auf die Fußballsprache herunterzubrechen: Die Verdatung der Welt, die alles quantifizierbar zu machen glaubt, hat in Form der Angabe von prozentuellen Ballbesitzquoten auch die Fußballreportagen erobert. Und mehr noch: Die subversive Replik auf die vermeintliche Faktizität des Messbaren lässt nicht auf sich warten, denn mindestens so häufig wie von Ballbesitzquoten ist in Livetickern etwa von „gefühlten 90% Ballbesitz“ und von „gefühlten 1000 Ballkontakten“ die Rede. Hat man nicht neulich das postfaktische Zeitalter ausgerufen, eines, in dem die gefühlte Wahrheit die Maßstäbe vorgibt? Postfaktisch, wenn man so will, ist der Fußball und das Reden über den Fußball eigentlich schon immer. Der Diskurs darüber, was als unteilbarer Rest übrigbleibt, wenn man alles in Zahlen umwandelt, dieser Diskurs wiederholt sich im Kleinen im Reden über den Fußball.
Doch auch die umgekehrte Wirkrichtung ist zu beobachten, wenn die Fußballsprache auf Bereiche außerhalb des Sports ausstrahlt. Fußballsprache ist eine fleißige Spenderin von Metaphern, Redewendungen und Sentenzen. „Rote Karten“ werden nicht mehr nur im Fußball gezeigt, in Koalitionsverhandlungen wird der „Ball flach gehalten“, und auch Wirtschaftsstandorte spielen in einer sprichwörtlichen „Champions League“.
Was nun für die Fußballsprache allgemein gilt, gilt auch für den Fußballspruch. So lange Trainer und Spieler die Klaviatur der Fußballsprache einfach nur regulär bespielen, verbleiben sie im Innern der Fußballkommunikationsmaschinerie, die einem Perpetuum mobile gleich ohne Zutun von außen, aber auch ohne Einfluss nach außen funktioniert. Ich habe kürzlich einen Twitterbot programmiert, der auf der Grundlage von 10 Jahren kicker-Liveticker zufallsbasiert Livetickermeldungen generiert und dabei auch Trainerzitate ausspuckt.
„Wir müssen unbedingt gewinnen“, mahnte Trainer Frontzeck gegenüber dem TV-Sender SKY.
— Livetickergenerator (@randomlivetext) 21. Oktober 2017
„Wir müssen mehr Willen zeigen, nach vorne zu kommen“, sagte Trainer Babbel vor dem Spiel.
— Livetickergenerator (@randomlivetext) 19. Oktober 2017
„Wir müssen jetzt dringend zurück in die Erfolgsspur finden“, forderte Trainer Frontzeck im kicker-Interview.
— Livetickergenerator (@randomlivetext) 16. Oktober 2017
„Wir müssen es schaffen, die Konzentration hoch zu halten“, sagte Trainer Götz vor der Presse.
— Livetickergenerator (@randomlivetext) 14. Oktober 2017
Eine erstaunliche Ansammlung von Plattitüden und Binsenweisheiten. Erfunden ist nichts, alles wurde so gesagt, es wird hier nur zufallsbasiert den Trainern in den Mund gelegt. Und wohlgemerkt: Die Trainer reden tatsächlich so, zumindest manchmal, aber die Medien sind es, die in Anbetracht erwarteter Leserinteressen gerade solche Plattitüden weiterverbreiten, die spätestens zum Anpfiff des nächsten Spiels wieder vergessen sind.
Ein bleibender Spruch dagegen gelingt nur dem, der die allzu ausgetrampelten Pfade der Fußballsprache verlässt, dem, der Erwartungen durchbricht und Unvorhergesehenes sagt. Wem dies gelingt, darf darauf hoffen, der Sammlung der Sprüche und Sentenzen, die auch außerhalb des Fußballs Berühmtheit erlangt haben, eine Zeile hinzuzufügen. Dessen Spruch wird vielleicht sogar zu einem geflügelten Wort, das auch andere gesellschaftliche Bereiche nach dem Modell des Fußballs zu thematisieren erlaubt. Der dafür nötige Bruch mit den Normalitätserwartungen kann ganz unterschiedlich ausfallen. Unübertroffen ist mit Sicherheit die frappierende Einfachheit der Herberger’schen Weisheiten. „Nach dem x ist vor dem x“ ist eine allseits verfügbare Satzschablone geworden. Ich zitiere aus der Nürnberger Zeitung: „Nach dem Streik ist vor dem Streik“ (20.4.2014) oder „Nach dem Christkindlesmarkt ist vor dem Christkindlesmarkt“ (27.12.13). Typisch sind auch die Brüche, die sich aus Versprechern ergeben, etwa Philipp Lahms Warnung, man solle nicht immer das Salz in der Suppe suchen.
Dann gibt es jene Sprüche, die offenkundig ganz gezielt gegen die Normalitätserwartungen verstoßen. Es gibt ja den Brauch, dass ein Dreifachtorschütze den Ball mit nach Hause nehmen darf. Nicht so Thomas Delaney, und seine Begründung ist hübsch, weil sie entgegen der von Medientrainern verordneten Bescheidenheit die Eitelkeit zelebriert, und dazu noch die digitale Eitelkeit:
„Nein, den Ball habe ich nicht mitgenommen. Ich muss jetzt erst einmal schauen, ob mein Wikipedia-Eintrag auf dem neuesten Stand ist.“
Es gibt aber auch Sprüche, die sich der eben angesprochenen Abgeschlossenheit des Fußballdiskurses widersetzen und politisch werden:
„Ich habe nichts gegen das Wort Europa. Ich bin ja nicht die AfD.“
So Alexander Nouri angesprochen auf die Möglichkeit, mit Werder Bremen noch einen Europa-League Platz zu erreichen.
Der Erwartungsbruch kann auch in Herberger’scher Tradition in der unerwarteten Einfachheit liegen. Zur Suspendierung von Pierre-Emerick Aubameyang für das Champions-League-Spiel gegen Sporting Lissabon sagte Thomas Tuchel:
„Wenn konsequent, dann konsequent konsequent.“
Als Germanist muss ich hier sofort an Roman Jakobsons poetische Funktion denken, welche durch eine Verfremdung – eben das Unerwartete – die Aufmerksamkeit auf die Botschaft und ihre Verfasstheit selbst zurücklenkt. Mit Jakobson gesprochen projiziert Tuchel also das Prinzip der Äquivalenz von der paradigmatischen Achse der Selektion auf die syntagmatische Achse der Kombination und ersetzt dort das Prinzip der Kontiguität. Aber seien wir nicht gar so akademisch und sagen es vielmehr so: Tuchel treibt hier das Plattitüdenhafte, das Nichtinformative so mancher Trainerfloskel in selbstironischer Manier auf die Spitze. Aber so wie jede Tautologie, wie etwa „Sieg ist Sieg“ oder „Dortmund ist nicht München“, noch eine andere Botschaft hat, so sagt hier Tuchel offenkundig noch mehr und fordert gleichsam unter der Hand ein, dass das Reden und Handeln verbindlich bleiben möge – auch und gerade im schnelllebigen Fußball.
Der Siegerspruch des Jahres 2017 bricht dagegen mit den Erwartungen, weil er ein wohletabliertes Rollenverhältnis mit dem damit verbundenen kommunikativen Rechten und Pflichten umkehrt: das von Verein und Fans. Den ritualhaft geäußerten Dank des Vereins an seine treuen Fans, der immer etwas nach Geschäftsbericht klingt, haben Fans auf Schalke auf einem Transparent beim Saisonabschluss in Ingolstadt kurzerhand gespiegelt:
„Wir danken der Mannschaft, dass sie uns auch in dieser Saison so zahlreich hinterhergereist ist.“
Das Transparent entlarvt so die Halbherzigkeit des Dankesrituals und ist zugleich eine sympathische Machtdemonstration der Basis des Vereins. Sicher, dieser Spruch ist nicht offen politisch wie Nouris AfD-Statement, ihm fehlt die Griffigkeit von Tuchels Tautologie und die Flapsigkeit von Delaneys Eitelkeitsbekenntnis. Aber in ihm findet sich eine ganze Fußballwelt wieder, was Fankultur auszeichnet, kommt hier ebenso zum Ausdruck wie die Kritik daran, dass diese Fankultur im verwalteten und wirtschaftsorientierten Fußball immer weiter zurückgedrängt wird. Ein würdiger Sieger. Und das Schalke mal einen Titel holt – wer hätte das erwartet?
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Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung der Laudatio zur Wahl der Fußballspruchs des Jahres 2017 im Rahmen der Gala zur Verleihung des Deutschen Fußball-Kulturpreises in Nürnberg. Einen Mitschnitt der Laudatio gibt es hier:
Wenn man in Betracht zieht, dass jeder Witz einen Funken Wahrheit in sich trägt, dann beklagen die Schalker Fans mit diesem Spruch auch desolate Vorstellungen ihres Teams, mangelnden Sieges- und Einsatzwillen. – Sprachlich finde ich ihn in seinem Witz so sarkastisch und trocken, dass ich ihn zweimal lesen musste, um ihn zu verstehen. Harald Schmidt hätte es nicht treffender sagen können.